Wie krank ist unser Gesundheitswesen?

Medizinisch gesehen kommt mir die 2007 von Ulla Schmidt initiierte Gesundheitsreform wie eine Operation vor, die das Gegenteil ihrer eigentlichen Absicht bewirkt. Der Patient ist nach dem Eingriff noch kränker als davor. Ein paar typische Beispiele für die aktuell bedenklichen Krankheiten des Gesundheitswesens in Deutschland: 


 

Erstens: Vertrauenskrise 
 

Sind die heute veranlassten Untersuchungen und Behandlungen medizinisch immer notwendig, oder werden sie nicht auch mehr und mehr aus wirtschaftlichen Interessen von Kliniken und Praxen verschrieben? Anders gefragt: Werden Patienten für die Amortisation von Investitionen missbraucht? Zumindest können Nichtmediziner hier kaum differenzieren und sind letztendlich auf völliges Vertrauen in die ärztliche Autorität angewiesen. Die Schuld liegt keineswegs nur bei den Ärzten, die heutzutage oft knallharte Vorgaben des Klinikmanagements erfüllen müssen und selbst diese Entwicklung heftig beklagen. Mittlerweile funktioniert das Gesundheitswesen mehr nach wirtschaftlichen als medizinischen Richtlinien. Im Mittelpunkt steht nicht die Gesundheit der Patienten (besser gesagt, Kunden) sondern knallharte Gewinnsucht. Wobei sich in der täglichen Praxis die eigentlichen Behandlungsvorteile von Privatpatienten in einen gravierenden Nachteil umkehren. Bei dieser Gruppe werden Diagnostik und Therapie gern um solche (oft überflüssige) Maßnahmen ausgeweitet, die von den gesetzlichen Krankenkassen in der Regel nicht bezahlt werden. Ohnehin erscheinen mir die Kostenträger maßgeblich durch Ullas Reform benachteiligt, weil sie zunehmend auch für medizinisch nicht erforderliche Leistungen zur Kasse gebeten werden. Im deutschen Gesundheitswesen wird quasi nur noch um Kosten debattiert. Zu gesellschaftlich bedeutenden Themen wie z.B. Lebensqualität im statistisch steigenden Alter oder sinnvolle (!) Präventionsmedizin besteht weitgehend ein branchenweites Schweigen. 
 

 

Zweitens: Pflegenotstand 
 

Was nützen die besten Ärzte und medizinischen Fähigkeiten, wenn durch Personalmangel Betten nicht belegt werden können? Das deutsche Klinikwesen krankt an einem chronischen Defizit von Pflegekräften. Die Lücken werden immer größer und somit die Wartezeiten für Patienten mit dringendem Behandlungsbedarf zugleich länger. Wichtige Eingriffe können nicht ausgeführt werden, weil nicht ausreichend Personal für die Pflege, Betreuung und Beobachtung verfügbar ist. Ein maßgeblicher Grund für das bundesweite Manko an Gesundheits- und Krankenpfleger ist der insgesamt unattraktive Stellenwert dieses Berufsbildes ohne jegliche Anziehungskraft für den Nachwuchs. Das branchen- und bundesweite Defizit an ausgebildeten Pflegefachkräften und Auszubildenden ist primär Folge der insgesamt unangemessenen Wertschätzung einer Tätigkeit, die höchstes Engagement und Einsatzbereitschaft bei vielfach übergebührenden Belastungen fordert. Statt auf intelligente Konzepte zu setzen, die vor allem neue Rahmen- und Arbeitsbedingungen sowie lukrative Karrierechancen schaffen, suchen viele Kliniken nach Pflegepersonal in Osteuropa und Übersee. Neues Denken und Handeln zu diesem Thema wird selbst in führenden Klinikketten allzu gern von den typischen Bedenkenträgern im Keim erstickt. Es fehlt halt auch an qualifizierten und innovativen Pflegeleitungen. 
 

 

Drittens: Rückläufige Organpenden 
 

In Deutschland sterben täglich drei Menschen, weil sie die Wartezeit auf ein Ersatzorgan nicht überleben. Die aufschreckenden Schlagzeilen um illegalen Organhandel haben die ohnehin schwache Spendenbereitschaft noch weiter gelähmt. Die Gesundheitspolitiker verflüchtigen sich nunmehr in einem konzeptlosen Aktionismus. Dabei wird die Bereitschaft zur Organspende keineswegs durch verordnete Beilagen der Krankenversicherer erzeugt. Was seit jeher fehlt, sind öffentliche Motivationen durch ansprechende Kampagnen und Sponsoring. Beispiele von geretteten Menschenleben durch Organspenden und den phantastischen Möglichkeiten der heutigen Transplantationsmedizin hätten viel mehr Überzeugungskraft als der bislang nüchterne und informationsarme Spendenaufruf. Oder wie wäre es mit einer Steuerbegünstigung für einen Spender? Viele haben auch deshalb noch keinen Ausweis, weil man ihnen bislang nicht die Zweifel hat nehmen können, die sie von dieser wichtigen Unterschrift abhalten. Das wären vorrangige Aufgaben für die Verantwortlichen im Gesundheitswesen und auch für die „Deutsche Stiftung Organspende”.

 

 

 

Eine Reform vom Patienten zum Wirtschaftsfaktor

© 2024 Michel Rodzynek. Alle Rechte vorbehalten. 

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